SpacerSpacer

Stella Hamberg

*1975 in Hessen
Lebt und arbeitet in Berlin

Das ist das, 2015

Bronze
120 x 110 x 110 cm
Sammlung Wemhöner



Ein weit aufgerissenes Gebiss eines großen Raubfisches. Lebhaft, fast als ob es die Betrachter*innen verschlingen könnte. Was von Weitem als ganzer Körper eines Haifisches erahnt werden kann, offenbart sich durch die Veränderung der eigenen Position als Illusion. Der Körper ist inexistent, die Skulptur besteht allein aus dem Maul des Raubtieres. Präsentiert auf einem Sockel, erschließen sich Details der Skulptur durch das Herumgehen und die Annäherung an den bedrohlich erscheinenden Hai. Aus einem frontalen Betrachtungswinkel steht man der Zahnreihe des Tieres unmittelbar gegenüber und nimmt die Position der Beute ein. Wechselt man den Blickwinkel, entkräftet sich der vorherige Zustand durch kontinuierliche Interaktion mit der Skulptur. Somit bleibt die Beziehung zwischen Beobachtenden und Beobachteten immer in Bewegung. Stella Hamberg
(Foto: David von Becker, Berlin)

Unterschiedliche Ansichten bietet auch die Oberflächenstruktur der Skulptur. Diese wechselt sich zwischen rauen und patinierten Texturen ab. Zu sehen sind Fingerabdrücke, Risse, Rillen, Dellen und modellierte Ergänzungen in Ton. Diese Zeugnisse des Entstehungsprozesses und seine aufeinander aufbauenden Bestandteile bringen letztlich eine lebhafte und bewegte Form hervor.

Die Künstlerin Stella Hamberg entscheidet sich in der Herstellung ihrer Skulpturen vornehmlich für das Material Bronze. Dieses ist von einer ausgeprägten Wandelbarkeit gekennzeichnet, die aus dessen Fertigungsverfahren stammt.

Die Herstellung der Skulptur ist dabei in mehrere Prozessabschnitte unterteilt, welche die Oberfläche jedes Mal neu definieren. Im Tonmodell übersetzen sich durch den Körpereinsatz der Künstlerin die Nuancen und die Zeichen, die auf der Skulptur erkennbar sind. Hamberg kann den Ton haptisch durch Fingerabdrücke, dem Hinzufügen von weiterem Ton, die Erzeugung von Dellen und weitere Methoden formen und sich dafür entscheiden, diese nicht zu nivellieren, sondern sichtbar zu lassen. Dem schließen sich das Wachspositiv und der endgültige Bronzeguss an. Dieser kann ebenfalls mittels unterschiedlicher Werkzeuge, wie Ziseliereisen, Feile, Schleif- und Polierwerkzeug sowie einer Patinierung nachbearbeitet werden. Jede Veränderung, die im Produktionsprozess vorgenommen wird, bleibt erhalten. Somit bildet sich am Modell eine Formsprache, die sich aus den Spuren der Bearbeitung zusammensetzt.

Eine exzessive Modulation und Abschleifung des Materials sind nicht erkennbar. Demnach bleibt offen, ob die Skulptur die gleiche Wirkungskraft haben würde, wenn die Künstlerin sich für andere Materialien oder Bearbeitungsmodi entschieden hätte. Das Gebiss erscheint durch seine Patina und groben Oberflächen lebendig und bedrohlich. Hätte sich die Künstlerin dafür entschieden, Marmor als Material für ihre Skulpturen zu benutzen, würde sich die Wahrnehmung des Sujets ändern? Würde das Gebiss als Fossil wahrgenommen werden?

Die matte, dunkle Schwarzbrand-Patina der Skulptur erinnert an die Farbe von Erdöl. Ein Rohstoff, der von der Menschheit seit mehreren Jahrzehnten missbraucht wird, die Meere verschmutzt und somit auch dessen Ökosystem mitsamt seinen Bewohnern gefährdet.

Der Mensch ist so zum Tyrann seines eigenen Ökosystems geworden. Die Urangst der Menschheit vor dem Hai wird in Filmen wie Jaws und allgemein in der Popkultur vermittelt, jedoch zeigt sich angesichts der Klimakrise auch der Mensch als Bedrohung des Hais. In der Begegnung mit Hambergs Skulptur stellt sich die Frage: wer ist eigentlich bedrohlicher? Wenn wir die Existenz von Tieren – mitunter Haien – beeinflussen und zunichtemachen, sind wir dann nicht die Ungeheuer? Die Formsprache der Skulptur zeigt genau diesen Aspekt der Einflussnahme auf. Die haptischen Spuren auf der Skulptur erzeugen einen Zusammenhang zwischen Mensch und Tier. Sie sind sowohl Relikte der Handlungen der Künstlerin als auch des menschlichen Handelns angesichts der Klimakrise. Sie geben die Essenz der Skulptur vor. Stella Hamberg entscheidet mit ihrer eigenen Körperkraft die Daseinsform des Raubfisches. Genau hier liegt die Wechselwirkung zwischen Mensch und Tier: so wie die Künstlerin die Existenz ihrer Skulpturen diktiert, so bestimmen wir die Existenz anderer Lebewesen.

(E.T)

zurück zur Künstler-Übersicht